In
ihrem Buch "Die Wolfsfrau", in dem es um die Kraft der weiblichen
Urinstinkte geht, beschreibt die Autorin Clarissa Pinkola Estés
u. a. , wie leicht seelisch ausgehungerte Frauen in Fallen tappen,
die sie ins Verderben, d. h. in ein zwanghaftes Verhalten führen
können. Sie zeigt aber ebenfalls, wie man das Scheitern nutzt, indem
man daraus lernt, ein sinnvolles Leben zu führen.
Ausgangspunkt für das Kapitel "Selbsterhaltung: Fallen, Käfige und
giftige Köder erkennen" ist ein Sagenstoff, der unter verschiedenen
Titeln, z. B. "Die Tanzschuhe des Teufels" oder "Die roten Teufelsschuhe"
bekannt ist. Die ungarisch-germanische Version, die die Autorin
verwendet, wird hier in gekürzter Form wiedergegeben:
Die roten Schuhe
Ein armes Waisenkind ging in Lumpen und barfuß durch die Welt. Es
besaß nicht einmal Schuhe. Mit der Zeit sammelte die Waise ein paar
rote Fetzen und nähte sich welche daraus. Diese gefielen dem Mädchen
sehr gut und es fühlte sich damit reich.
Eines
Tages, als die Waise ihrer Wege ging, hielt eine goldene Kutsche
neben ihr und eine alte Frau bot ihr an, sie bei sich aufzunehmen.
Prompt ließ sie sich darauf ein. Von der alten Dame bekam sie neue
Kleider und Schuhe. Sie musste jetzt immer stillsitzen, durfte nicht
herumhüpfen und nur dann etwas sagen, wenn es gefragt wurde. Als
sie nach ihren selbst geschusterten roten Schuhen fragte, bekam
sie zur Antwort, dass sie mitsamt den alten Lumpen verbrannt worden
wären, weil sie der alten Frau so lächerlich erschienen. Das Mädchen
war darüber sehr traurig, denn die Schuhe, die es mit eigenen Händen
gemacht hatte, waren ihm trotz des Reichtums ringsumher noch immer
das Liebste gewesen.
Zur
Konfirmation brauchte die Waise neue Schuhe. Sie gingen zu dem verkrüppelten
Schuster in der Stadt; der hatte ein Paar leuchtendrote Schuhe der
richtigen Größe im Regal stehen. Das Herz des Mädchens hüpfte, als
es sie sah. Die alte Dame war farbenblind; rote Schuhe wären nie
in Frage gekommen. Da sie aber nicht um dessen Farbe wusste, kaufte
sie das feilgebotene Paar; schließlich passte es dem Mädchen. Der
Schuhmacher ermunterte die Waise durch ein Augenzwinkern zu diesem
Schmuggel.
Die
Konfirmation fand am nächsten Tag statt. Die ganze Gemeinde starrte
auf die rot glänzenden Schuhe und die Leute zerrissen sich die Mäuler
darüber. Während die Waise sich freute, dass es kaum etwas Schöneres
geben könnte als diese Schuhe, verbot ihr die alte Frau, sie jemals
wieder anzufassen.
Doch
sie konnte der Versuchung nicht widerstehen und trug sie beim Kirchgang
am nächsten Sonntag wieder. Am Kircheneingang stand ein rotbärtiger
verletzter Soldat, der dem Mädchen den Staub von den Schuhen klopfte.
Er zwinkerte ihm zu und raunte: "Behalte sie an, bis der Tanz beginnt."
Beim Verlassen der Kirche rief der Soldat der Waisen noch einmal
nach, was sie für hübsche Tanzschuhe hätte, worauf sie eine kleine
Pirouette drehte. Danach konnten ihre Füße nicht mehr aufhören,
sich um- und umzudrehen. Sie tanzten durch Blumenbeete, über den
Friedhof, durch Felder und Wiesen. Der Kutscher der alten Dame fing
das Mädchen wieder ein und diese verbot ihm nochmals, die Schuhe
anzurühren.
Die
Alte wurde bettlägerig. Einmal, als die Ärzte das Haus verlassen
hatten, holte das Mädchen die Schuhe aus dem Schrank. Es dachte,
es könne doch nichts schaden, sie überzustreifen. Doch kaum, dass
es sie an den Füßen hatte, konnte es nicht mehr aufhören zu tanzen:
zur Tür hinaus, über die Dorfstraße und einen schlammigen Feldweg
in den Wald. Erst war das Mädchen berauscht, doch als es merkte,
dass es die Richtung nicht steuern konnte, wurde ihm unheimlich.
Es konnte die Schuhe nicht ausziehen, und so tanzte es Tag und Nacht,
durch Regen und Sonnenschein. In einem Kirchhof begegnete der Armen
ein Geist, der sie verfluchte, dass sie so lange tanzen sollte,
bis nur noch ihre Innereien übrig wären.
Schließlich
war sie so erschöpft, dass sie den Scharfrichter anflehte, bei dem
sie vorbeikam, er solle ihr die Schuhe abschneiden. Als diese sich
aber nicht von ihren Füßen lösten, bat sie ihn, ihr die Füße abzuhacken.
So geschah es. Die Schuhe tanzten mitsamt den Füßen weiter. Das
Mädchen war nun ohne Füße und musste sich als Dienstmagd verdingen.
Aber es hatte keine Sehnsucht mehr nach roten Schuhen.
Clarissa
Pinkola Estés zeigt die psychischen Mechanismen auf, die den
Verlauf der Geschichte bestimmen. Viele Frauen geraten in ihrem
Leben in bestimmten Bereichen in ein Zwangsverhalten, das sie nur
schwer ablegen können. Die Autorin macht uns anhand des Märchens
die Fallen bewusst und stellt dar, wie man wieder zu den Wurzeln
der instinktiven Natur zurückfindet:
Die
Vorstellung eines weniger anstrengenden Lebens, das das Mädchen
in der sicheren Obhut der alten Dame erwartet, ist sehr verlockend.
Wie sich jedoch später herausstellt, begibt es sich in eine Art
Gefängnis. Das Mädchen fügt sich den Wertvorstellungen der vertrockneten
Alten und ahnt nicht, welche Gefahren damit verbunden sind. So geht
es vielen Frauen, die zu einer Zeit, in der sie es nicht besser
wissen, ein folgenschweres Gelübde ablegen.
Der
Verlust der selbst geschusterten Schuhe stellt den Verlust des eigenen
Lebensstils und der Bewegungsfreiheit dar. Durch den zahmen Lebenswandel
geht die Vitalität und das instinktive Gespür für richtig und falsch
verloren; unbewusst entsteht ein unbändiges Verlangen nach exzessiver
Lebensfreude. Der Seelenhunger treibt viele Frauen an, nach allem
zu greifen, was dem verlorenen Schatz ähnelt. Sie möchten das Versäumte
nachholen. Dabei ist die Gefahr groß, sich solche Ersatzbefriedigungen
zu suchen, die nur ein triebhaftes, schnelles Glück verschaffen
können. Häufig beginnt damit ein Doppelleben. Die eigentlichen Bedürfnisse
können jedoch nicht gestillt werden. Eine instinktverletzte oder
überdomestizierte Frau hat große Schwierigkeiten damit, diese wahrzunehmen.
Sie merkt nicht, wann es Zeit ist zu fliehen, wann Vorsicht und
Misstrauen geboten sind, kann nicht um Hilfe bitten usw.
Das
Mädchen versucht, brav zu sein und die Schuhe nicht anzurühren,
d. h. ohne seelische Befriedigung auszukommen. Doch das gelingt
ihm nicht. Es beginnt innerlich zu rebellieren und wagt es später,
in den verbotenen Schuhen zur Kirche zu gehen; denn inzwischen ist
es süchtig danach geworden. Der Mann mit dem roten Bart macht das
Mädchen nicht lebendiger, wie es zunächst scheint, sondern löst
durch das Klopfen auf die Schuhsohlen erst den Zwang zum Tanzen
aus. Nicht Lebensfreude, sondern der Mangel daran treibt das Mädchen
ins Verderben. Zuletzt hackt der Scharfrichter die Schuhe mitsamt
den Füßen ab: es gibt keinen anderen Weg, als sich unter Schmerzen
von einem Zwangsverhalten zu trennen. Danach braucht es einige Zeit,
in der man lernt, auf die eigene Stimme zu hören und den natürlichen
Instinkten zu vertrauen.
Das
Suchtverhalten beginnt damit, dass eine Frau ihr selbstgestricktes
und daher sinnvolles Leben aufgibt und sich dann auf Dinge fixiert,
die dem Verlorenen ähneln. Damit eine Frau wieder zu ihren angeborenen
Urinstinkten zurückfindet, die ihr zu einem kraftvollen und glücklichen
Leben verhelfen können, muss sie sich weigern, in Gefangenschaft
zu leben. Verletzte und abgestumpfte Instinkte sind heilbar. Doch
nur wenn eine Frau die anerzogene Rolle des Lieb-, Nett- und Angepasstseins
aufgibt und ein gesundes Maß an "Wildheit" zulässt, kann sie aufwachen
und wieder "sehend" werden.