Die roten Schuhe -
eine Frage des Standpunkts

 

 

Neu belebt

Kürzlich saß ich mit meiner Freundin Renate im Straßencafé. Sie war ganz aufgeregt. Sie musste mir dringend etwas erzählen, sagte sie. Die Serviererin brachte uns Kaffee und Kuchen, und schon sprudelte sie los:

"Letztens meinte Paul, wir könnten doch mal wieder ins Theater gehen. ‚Mal' bedeutete: genau an diesem Abend. Ich war zwar spät nach Hause gekommen und bis zum Beginn der Vorstellung blieb nicht mehr viel Zeit. Aber ich dachte mir: ‚Renate, wenn der Paul das schon vorschlägt, dann musst du das ausnutzen. Ins Theater gehen, dann noch ein bisschen schlemmen, das ist doch klasse!' Also zog ich mich schnell um, aß einen Happen und schon ging's los." Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie sie mit einer halben Semmel im Mund in ihre Sachen schlüpft. So machte sie es schon in unserer gemeinsamen WG-Zeit.

Sie hob den Finger und fuhr fort:
"Jetzt pass' auf, Doro. Ich verrate dir, wie man nach zwanzig Jahren Ehe seinen Mann aus der Reserve lockt: Erst im Foyer fielen dem Paul meine neuen Pumps auf. Knallrote. Er war ganz baff. Ich dachte mir: Na klar, die Farbe ist er nicht gewöhnt. Sonst ziehe ich nur schwarze Schuhe an. Ich hatte die roten letztens in dem Schuhladen in unserer Straße gesehen und kam auf die Idee, dass sie sich verdammt gut zu dem grauen Schlauchkleid machen würden. - Wo war ich stehen geblieben? - Ach ja, also im Theater trafen wir zufällig die Beate, eine Bekannte von mir, mit der ich mich noch kurz unterhalten musste. Muss man doch. Hatte sie lange nicht gesehen. Paul lehnte derweilen an einer Säule. Einmal schaute ich zu ihm 'rüber, da merkte ich, dass er mir auf die Füße starrte wie eine hypnotisierte Katze ...." Bei diesen Worten sah sie mit unbewegtem Blick auf meinen Kuchen. Unwillkürlich zog ich den Teller zu mir her.

"Ja, genau so", lachte sie. "Drinnen setzten wir uns ins Parkett. Ich fragte mich: ‚Was hat er bloß? Er guckt mich immer so an! Mein Gatte kann sich gar nicht auf das Stück konzentrieren!' Seine Hand wanderte an mein Knie. Auf einmal flüsterte er mir ins Ohr, was ich für eine tolle Frau wäre. Wie gut ich heute aussähe. Auf so viel Begeisterung war ich nicht gefasst und kicherte nur. Aber das war erst der Anfang. Was er mir alles für Schmeicheleien erzählte! Später - das muss man sich vorstellen, wir sind schon so lange verheiratet - zog er seinen Schuh aus und streichelte mir mit dem besockten Fuß das rechte Bein. Einfach so. Im Theater. Erst war ich wie vom Blitz getroffen. Mein Gott, was denken die Nachbarn? Fühlt sich jemand von so einer Szene belästigt? Verlässt jemand unter Protest den Saal? Schließlich genoss ich es doch. Es war ganz schön aufregend. Plötzlich zuckte er zusammen. Ihm fiel wohl auf, dass wir im Theater waren und nicht zu Hause. Er schlüpfte wieder in seinen Schuh und nestelte unter dem Sitz an den Schnürsenkeln herum. Dann richtete er sich auf - und prompt schlug er mit dem Kopf gegen den vorderen Sitz. Da kann man sich ja denken, was passiert. Der Vordermann drehte sich um und fragte, ob wir denn endlich mal ruhig sein könnten. Er war ganz rot im Gesicht, ganz verärgert. Paul hielt sich mit der einen Hand den Kopf, zeigte mit der anderen auf mich und meinte ganz frech: "Wenn Sie diese Frau neben sich hätten, würden Sie auch unruhig werden." Daraufhin warf die Begleiterin des Mannes den Kopf herum und schaute mich böse an. Was glaubst du, Doro, wie schwer es mir fiel, mich zu beherrschen! Ich lache ja oft gleich los. Und zwar ziemlich laut. Mein Mann entschuldigte sich noch, aber das hörte keiner. Da war Szenenapplaus."

Renate rührte in ihrem Kaffee herum, leckte genüsslich den Löffel ab und malte einen Kreis in die Luft. "Und dann?", fragte ich. "Ja, und dann ..." Sie lächelte verschmitzt und erzählte weiter:

"Paul meinte zum Schluss, er müsse das Stück nachlesen. Aber das war ihm egal. Er sagte, meine roten Schuhe hätten ihn total irritiert. Zum Essen gingen wir nicht mehr. War auch nicht nötig. Was nach dem Theater passierte, war viel - wie sagt man - ‚prickelnder' als Hummer und Champagner sein könnten ..."


Ingrid Tomasi

 

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